Was ist genau Viniyoga?

Im Viniyoga werden Yoga-Übungen an die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten des jeweiligen Menschen angepasst – und nicht umgekehrt. Erstaunliche Erfolge, gerade im therapeutischen Bereich, sind das Resultat

Dass aus der Sicht des Viniyoga akrobatische Asanas wie Halasana (der Pflug) oder Shirshasana (der Kopfstand) in der Regel Kindern und Jugendlichen vorbehalten sind, hat einen einfachen Grund. Selbst wenn wir im Erwachsenenalter in der erfreulichen Lage sind, diese Haltungen einnehmen zu können, ohne uns gesundheitlich zu schaden – kurz gesagt, körperlich fit genug dazu sind -, stellt sich die Frage nach dem »Wozu?«. Es ist die Überzeugung, dass Yoga nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck ist, was dazu führt, dass andere Asanas in der Tradition T.K.V. Desikachars viel öfter angewandt werden. Sind doch die Erwartungen, Wünsche und Ziele, mit denen Menschen zum Yoga kommen, oft viel weitreichender als der Aspekt von Körperbeherrschung. Menschen unterscheiden sich aber auch in ihren Möglichkeiten, sie verändern sich. Und auch die Bedingungen, unter denen sie üben, verändern sich. Immer wieder neu stellt sich uns deswegen die Frage: Wie kann Yoga für eine einzigartige Person in einer gegebenen und ebenso einzigartigen Situation von Bedeutung werden und seine Wirkung entfalten?

Die Antwort von Viniyoga auf diese Frage ist sein Variantenreichtum in Asana, Pranayama und Meditation. Es ist die Idee, dass der Yoga an den Menschen angepaßt werden sollte und nicht umgekehrt, die diese große Vielfalt hervorbringt. Eine solche Art der Anwendung setzt ein besonderes, konzeptionelles Verständnis von Yoga voraus, in welchem der Atem eine große Rolle spielt. Den Bezug auf das Yoga-Sutra ernst nehmend, kommt hier auch der Vermittlung durch einen Lehrer große Bedeutung zu.

»“Es gibt so viele Asanas wie Menschen«, sagte Sri Krishnamacharya, einer der größten Yoga-Lehrer des 20. Jahrhunderts, und er meinte es wirklich so. Ihm ist es zu verdanken, dass der Aspekt des Viniyoga, das Variieren, das Anpassen der Mittel des Yoga an den einzelnen Menschen, heute so große Bedeutung erfährt. Keine Übung, kein Asana war ihm zu heilig, um es abzuwandeln, um es an den Menschen anzupassen, wenn es nötig war.

Dass dieser große Gelehrte in den letzten 20 Jahren seiner insgesamt 70jährigen Lehrtätigkeit ausgerechnet diesen Schwerpunkt für seine Arbeit wählte, fußt auf folgender Überzeugung: Jeder Mensch ist anders, jeder Mensch sucht anderes im Yoga, jeder Mensch reagiert auf eine bestimmte Yoga-Praxis auf seine individuelle Weise.

Viniyoga beschreibt jenen besonderen Umgang mit Yoga, der diese Unterschiede nicht nur respektiert, sondern sich tatsächlich auf jeder Ebene ausrichtet an den besonderen Wünschen, Möglichkeiten, dem kulturellen Hintergrund, dem individuellen Lebensentwurf eines Menschen.

T.K.V.Desikachar, T.Krishnamacharyas engster Schüler und Sohn, setzt die Arbeit seines Lehrers in diesem Sinne fort. Ihm zufolge entwickelte sein Vater diese besondere Art und Weise der Yoga-Arbeit erst Ende der sechziger Jahre, als mehr und mehr Menschen mit Problemen und Einschränkungen zu ihm als Yoga-Lehrer kamen. T.K.V.Desikachar gilt heute weltweit als eine der bekanntesten Autoritäten für die therapeutische Anwendung von Yoga.

Auch bei uns im Westen hat sich dieser Yoga-Ansatz in den vergangenen Jahren damit einen Namen gemacht, dass er kranken Menschen eine Hilfe sein kann. Der große Vorteil davon, Yoga so vielfältig anwenden zu können ist tatsächlich, dass auch diejenigen, die durch Krankheit, Unfall oder aber auch einfach nur altersbedingt oder während einer Schwangerschaft unter mehr oder weniger starken Einschränkungen leiden, gewinnbringend Yoga üben können. Es ist fast überflüssig zu betonen, dass es aber auch für weitgehend gesunde, leistungsstarke Yoga-Übende von Vorteil ist, wenn auf ihre individuellen Möglichkeiten und Bedürfnisse eingegangen werden kann.

Besonders beeindruckend ist in diesem Zusammenhang, was eine Yoga-Lehrerin einmal über diese Tradition äußerte. Man muß dazu wissen, dass sie als Tänzerin und Krankengymnastin viel Erfahrung mit Körperarbeit hatte, als sie mit Yoga in Berührung kam. Auf die Frage, was es ist, das sie ausgerechnet beim Viniyoga bleiben ließ, sagte sie: „Ich finde vor allem dieses Zusammenwirken von Körper- und Atembewegung entscheidend. Sie ergänzen sich so überzeugend. Mir fällt das besonders auch in körperlich stark anstrengenden Asanas auf. Denn an meine Grenzen gehen kann ich auch im Tanz. Aber so wie ich es im Viniyoga kennengelernt habe, hat es eine andere Qualität. Man kommt nicht außer Atem … Die Art und Weise, wie man an seine Grenzen, geht ist eine andere. Es ist feiner. Es ist rücksichtsvoller.“

Das Ernstnehmen des Yoga-Sutra
Aber wie kann man die jahrtausendealten Übungen einfach abwandeln? Der Idee von Viniyoga liegt ein besonderes Verständnis von Yoga zugrunde. Nämlich, dass sich eine Praxis, eine Körperübung, eine Atemübung, eine Meditation nicht aus ihrer Form erschließt, sondern aus ihrem Konzept und ihrer Funktion in einem gegebenen Kontext.

Auf Asanas bezogen bedeutet das, dass das, was auf einem Foto zu sehen ist oder was wir betrachten, wenn uns jemand die Übung vormacht, nur ein Bruchteil dessen ist, was das Wesen des Asana ausmacht. Das Wichtigste kann man dabei nicht erkennen. Und das ist das, was Patanjali mit »sthira sukha« beschreibt, nämlich stabil zu sein in einem Asana und gleichzeitig leicht. Oder anders gesagt:

Wenn wir Asana richtig üben, darf Wachheit nicht zur Verspannung führen und Entspannung nicht zu Trägheit oder Schwere.“ (Yoga-Sutra II, 46)

Das ist das, was uns beim Üben aller Asanas leiten sollte, ganz gleich, ob wir im Sitzen, im Liegen, auf den Knien oder im Stand üben. Und es ist auch diese Qualität, auf die sich Patanjali bezieht, wenn er davon spricht, wie nun die Anpassung vonstatten gehen soll. In seinen Yoga-Sutras II, 47 sagt er:
„Wir können uns diesen Qualitäten annähern durch eine passende Anstrengung und die Reduzierung der dabei auftretenden Spannungen einerseits und die Ausrichtung auf »ananta« andererseits.“



In diesem einen Satz ist das gesamte Unterrichtskonzept des Viniyoga enthalten.

Denn das Wort »passend« läßt sich zum einen darauf beziehen, mit was für einem Anliegen jemand zum Yoga kommt, das heißt, die Praxis muß auf sein Ziel zugeschnitten sein. Zum andern muß sie passend sein darauf bezogen sein, was für Möglichkeiten er mitbringt. Aber auch der Aufbau der Praxis selbst erschließt sich daraus. Das was T.Krishnamacharya »vinyasa krama» genannt hat, den schrittweisen Aufbau einer Yoga-Stunde, basiert auf eben diesem Sutra. Denn angemessen sollten auch die Vorbereitung und der Ausgleich für ein Asana sein und ebenso die Bewegungsabläufe, die wir einflechten, um zu prüfen, ob jemand für eine sehr anfordernde Übung zu diesem Zeitpunkt fit genug ist.

Konzept und individuelle Anpassung
Wie also sieht das im Einzelnen aus, wenn wir Yoga auf so vielen Ebenen individuell anpassen? Um die Übungen entsprechend abwandeln zu können, muß man natürlich einerseits die Umstände kennen. Also: Wen habe ich vor mir? Was möchte er vom Yoga? Unter was für Bedingungen wird er üben?

Andererseits brauchen wir als Unterrichtende einen guten Überblick über die Mittel, die uns zur Verfügung stehen, um diese gezielt einsetzen zu können. Dazu gehört, dass wir uns den Anforderungen, die in den Asanas stecken, bewußt sind. Beurteilen wir eine Übung bezogen auf seine Anforderungen, haben wir immer als erstes die Wirbelsäule im Blick. Denn die Bewegung, die in diesem Körperbereich stattfindet, ist maßgeblich. Ob es sich dabei um eine Rückbeuge, Vorbeuge, Drehung, Seitbeuge, Streckung oder Umkehrposition handelt, die Wirkung ist immer eine andere. Außerdem sollten wir um die aus den gesamten Anforderungen eines Asanas resultierenden Schwierigkeiten und Risiken wissen und berücksichtigen, dass es Übungen gibt, die in bestimmten Fällen nicht angewandt werden dürfen.

Wichtig ist es auch, dass wir uns über die in den Asanas versteckten Anforderungen im Klaren sind. Einerseits um auch diese gezielt einsetzen zu können, aber auch, um bei eventuell auftretenden Beschwerden, nachvollziehen zu können, welche der Übungen am ehesten dafür verantwortlich sein kann, und entscheiden zu können, wie die Praxis entsprechend verändert werden muß. Bei diesen Überlegungen werden auch immer die Abläufe mit einbezogen, die uns in eine Haltung hinein- oder aus ihr herausbringen.

Ein einfaches Beispiel dafür ist Uttanasana (siehe Fotos). Bei diesem Asana, der Vorbeuge aus dem Stand, ist es gar nicht einmal die Vorbeuge selbst, die die Übung so anstrengend macht. Es ist der Weg zurück aus der starken Dehnung, der Uttanasana als körperlich sehr anfordernd gelten läßt. Denn um den Rumpf aus der Vorbeuge wieder aufzurichten, muß sich die Rückenmuskulatur noch in der Dehnung kontrahieren. Das ist Schwerstarbeit und nur für einen gesunden Rücken gewinnbringend.

Wir sollten also einerseits gut darüber Bescheid wissen, was für Anforderungen in einer Übung stecken. Zu unserem Repertoire gehört aber auch eine Reihe von hilfreichen Hinweisen, wie wir es jemandem erleichtern können, ein Asana so zu üben, dass gute Chancen bestehen, dass die Qualität von »sthira sukha« für ihn erfahrbar wird. Neben einer präzisen Ansage, mit der ich jemanden in eine Übung hineinführe – er muß genau wissen was ich meine – sind die sogenannten Bhavanas das Tüpfelchen auf dem „I“. Bhavanas sind die Punkte, die wir beim Üben unbedingt berücksichtigen müssen.

Auch hier ein Beispiel. Wir möchten jemandem Virabhadrasana (eine asymmetrische Rückbeuge aus der Schrittstellung) vorschlagen. Wir kennen die wesentlichen Anforderungen dieser Übung: Für die Rückbeuge ist Beweglichkeit und Kraft im gesamten Rücken erforderlich, die Kniegelenke müssen belastbar sein, die rückwärtige Beinmuskulatur dehnbar. Zudem ist die asymmetrische Ausgangsposition eine Herausforderung an die Koordination.

Alle Erwägungen dazu, welche Variante angemessen ist, beziehen sich jetzt wiederum darauf, ob das Hauptkriterium erfüllt wird, nämlich ob die Wirbelsäule auf die gewünschte Art – also Rückbeuge im gesamten Rücken – erreicht werden kannn. Ist hier für die passende Breite und Länge des Schritts und die stabilisierende Dehnung des hinteren Beins gesorgt, so kann im Rücken das »Richtige« passieren.

Es gibt auch die Möglichkeit, dieses Asana von einem Hocker aus zu üben. Wenn jemand beispielsweise Knieprobleme hat, ist dies eine wunderbare Möglichkeit, den Charakter von Virabhadrasana aus einer stabilen asymmetrischen Sitzposition heraus erfahren zu können. Aber es ist nicht nur die Auswahl der Varianten. Auch die vorbereitenden Asanas, die Anzahl der Wiederholungen, die Entscheidung ob statisch oder nicht, sowie der Ausgleich sollten auf den einzelnen Menschen abgestimmt sein.

Was in dem verkürzten Asana-Beispiel schematisch wirkt, kann nur andeuten, was für vielfältige Mittel uns zur Verfügung stehen, diesem zugegebenermaßen hohen Anspruch an Individualität gerecht zu werden. Für die Arbeit mit Pranayama und Meditation gilt dies selbstverständlich gleichermaßen; dies zumal, wenn man bedenkt mit welch teilweise völlig gegensätzlichen Vorstellungen und Zielen Menschen zum Yoga kommen. Diese respektieren wir am besten, indem wir ihnen die geeigneten Mittel anbieten.

Der Atem
Großen Wert wird in der Tradition T.K.V. Desikachars auf die Verbindung von Körper- und Atembewegung gelegt. Wenn wir uns genauer ansehen, auf welche Weise sich diese beiden Ebenen ergänzen, wird klar, warum. Auf ganz natürliche Weise bewegt nämlich der Atem die Wirbelsäule, auch ohne dass wir Yoga üben, wenn auch sehr subtil. Die Einatmung bewegt sie in Rückbeuge, die Ausatmung in Richtung Vorbeuge. Beim Üben von Asanas setzten wir diese von Geburt an vorgegebenen Bewegungsmuster gezielt ein, wir unterstützen sie.
In der Regel leiten wir im Viniyoga deswegen die Bewegungsabläufe so an, dass beispielsweise die Bewegung in Richtung Rückbeuge mit der Einatmung geschieht, die Vorbeuge mit der Ausatmung. Dabei begleitet der Atem die Bewegung von Anfang bis Ende, möglichst fein und lang. Dieser Atemfluß ist es, der ein Asana lebendig macht.

Das bereits erwähnte Sutra II, 47 nennt bezogen darauf, wie wir Stabiltät und Leichtigkeit beim Yoga-Üben erreichen können, neben der „passenden Anstrengung“ einen zweiten wichtigen Punkt. Diesen beschreibt Patanjali mit „Ausrichtung auf Ananta“.

Was hat es damit auf sich? Nun, Ananta hat mehrere Bedeutungen. Eine verweist wiederum auf sthira sukha – Ananta, als die Weltenschlange in der indischen Mythologie; und die andere ist: „der immerwährende Atem“. Beide Interpretationen sind sehr sinnvoll, heben sie doch die große Bedeutung des Atems als Wegbereiter für Qualität im Üben hevor.

Yoga braucht Lehrer
Viel wurde jetzt von „passend“ gesprochen, und es wurde betont, dass der Mensch das Maß ist und dass derjenige, der Yoga vermittelt, sein Werkzeug gut kennen muß, die Kriterien dafür kennen sollte, wann welches Werkzeug zum Einsatz kommt. Noch viel zu kurz gekommen ist dagegen ein weiterer Aspekt von Viniyoga, der einen sehr wichtigen Raum bei der erfolgreichen Vermittlung einer individuellen Praxis einnimmt: die Beziehung zwischen Schüler und Lehrer. Nur wenn beide eine gemeinsame Sprache finden, in der der eine seine Wünsche und Ziele äußern und der andere mit den Mitteln des Yoga für ihn akzeptable Vorschläge machen kann, wird die gemeinsame Bemühung fruchten. Es ergänzen sich dabei die Erfahrungen des Schülers mit dem geschulten Blick des Lehrers. Ein regelmäßiger Austausch über die Wirkung der regelmäßig geübten Praxis ist unerläßlich. Dazu gehört auch das offene Gespräch, wenn der gewünschte Erfolg nicht eintritt.

Das alles ist im Einzelunterricht einer persönlichen Praxis vergleichsweise leicht zu bewerkstelligen. Wir wissen, dass im Gruppenunterricht das Anpassen des Yoga an den einzelnen Menschen eine große Herausforderung ist. Und auch wenn es in kleinen Gruppen gute Möglichkeiten dafür gibt, Asana-Varianten anzubieten, das Maß an Individualität kann dabei nicht an das herankommen, was bei einem Einzelunterricht möglich ist.

Ursprünglich wurde Yoga nur – wie T.K.V.Desikachar es nennt- als „Ein Mund – zwei Ohren“ gelehrt. Aber die hier im Westen entwickelte Gruppenunterricht hat Besonderheiten, die für unseren Kulturkreis durchaus wertvoll sind. Einerseits ist dies der Rahmen, in dem die meisten Menschen bei uns Yoga überhaupt kennenlernen. Es ist der erste Schritt zu einer regelmäßigen Praxis. Und erstaunliche Veränderungen durch einmal wöchentliches Üben sind tatsächlich möglich. Andererseits ist es jedoch auch der soziale Aspekt, der Yogagruppen zu etwas Besonderem macht. Sie sind Orte der Begegnung. Wenn Menschen, so unterschiedlich sie auch sind, ohne sich miteinander zu vergleichen, Matte an Matte Yoga üben können, dann sind wir alle ein ganzes Stück weiter.

Text: Judith Knilli

Quelle: Yoga-Aktuell